Mehr Santiago

Ich bin Antoinette dankbar für ihren Beitrag, so gibt es auch einmal eine 2. Meinung zu sehen. Allerdings kann ich es nicht lassen, ihr in 1 Punkt zu widersprechen: ¨Schaurige¨ Bausünden sind m.E. durchaus kein sozialistisches Privileg, die finde ich auch in erzkapitalistischen Innenstädten.

Als realsozialistisch im abwertenden Sinn habe ich dagegen empfunden, wie mein Wunsch nach einer Visumsverlängerung behandelt wurde. Das Visum ist zunächst 30 Tage gültig, ich bin aber total 5 Wochen hier. Verlängern kann man in einer Provinzhauptstadt, in einer oficina de inmigración mit beschränkten Öffnungszeiten und Warteschlangen. Bei mir eilts zwar noch nicht, ich wollte das aber hinter mir haben. Wir fahren also per Taxi (Chevy 1952, 4 CUC hin und zurück, inkl. unbegrenzter Wartezeit) zur oficina, zu viert, und geniessen nebenbei eine kleine Stadtrundfahrt. Nach etwa 45 min. Warten bei gut 30 Grad bin ich dran, wobei mir eine resolute Beamtin verkündet, ich sei viel zu früh dran, das ginge nicht, ich solle doch bei Ablauf des Visums wieder kommen, Ende der Durchsage, ¨der Nächste¨.

Santiago ist also heiss, sehr heiss sogar, und längere Fussmärsche auch darum nicht zu empfehlen, weil wir zur Zeit in der hügeligsten Hafenstadt der Welt sind. Entsprechend sieht man kaum Velos, dafür um so mehr Motorräder mit MZ-Dominanz, also DDR-Produktion, PW = Chevy 50-Jahre und Busse. Bei den Bussen sehe ich eine bunte Mischung aus ¨richtigen¨ Bussen, modifizierten Camions und Pferdefuhrwerken (1 Pferd, 12 Passagiere). Die Luft ist zum Schneiden. Von einem früheren Tramnetz mit abenteuerlichsten Linienführungen sind die Schienen übrig geblieben.

Auch unsere Casa ist dem Verkehr ausgeliefert. Wunderbares koloniales bis spätkapitalistisches Interieur mit 4 m hohen Räumen voller Antiquitäten und Nippes, aber halt direkt an der Strasse. Dafür kocht Rosa, unterstützt durch ihre ganze Sippschaft, ganz ausgezeichnet. Wir haben nur am 1. Abend auswärts gegessen, in einem sicher inoffiziellen Paladar, und das umgehend bereut – überteuert. Verführt hat uns ein Schlepper, von denen es hier viele gibt, wie auch Musiker und Bettler, die meisten hartnäckig bis aufdringlich.

Das Essen im Paladar hat Antoinette 60 CUC gekostet (sie hat eingeladen), für die ganzen 4 Tage in der Casa particular (4 Nächte, 4 desayunos, 3 cenas, Wäsche waschen) wollte Rosa 320 CUC!

Kulturell bewegen wir uns inner- und ausserhalb des Erwarteten, immer in Massen (mit langem ¨a¨). Wir besuchen die Casa Diego Velazquez, das älteste Haus Lateinamerikas mit kolonialem Interieur, Patios und dem Ofen, in dem die Spanier das Gold Mexikos und Perus zu Barren eingeschmolzen haben. Im Patio hören wir 5 jungen Frauen zu, a cappella, sehr professionell, hoffentlich tönt auch ihre CD so. Vis-a-vis ruhen wir uns auf der 1.Stockterrasse des **** Casa Granda, diesmal zum klassischen son einer 8-Mann-Band. Anderntags steht das Museo de Carnaval auf dem Programm, mit anschliessender afrocubanischer Folklore-Show, schweisstreibend weil aktive Mitwirkung fordernd. Die Kathedrale enttäuscht mich,  sie wurde mehrfach durch Erdbeben zerstört und ist in der jetzigen Form knapp 100-jährig. Vom kürzlichen Erdbeben in der Region sind im übrigen keine offensichtlichen Spuren zu sehen.

Das Castillo de San Pedro del Morro liegt 4 km von der zentralen Plaza Céspedes bzw. auch von unserer Unterkunft entfernt. Zu Fuss nicht zu empfehlen, den Mietwagen lasse ich lieber in der Obhut des Parqueo, also chartern wir Guillermo mit seinem Chevy, diesmal 1954, ohne Schnickschnack wie Türverkleidungen, aber mit Originalmotor und schrumpflackrot-weiss angestrichen. Mit ihm müssen wir erst etwas handeln, dann verstehen wir uns aber gut und kommen mit der Zeit auch ins Gespräch. Englischkenntnisse scheinen mir nicht wirklich verbreitet, die hören oft kurz nach der Begrüssungsfloskel auf, aber auf unsere Spanisch-Bemühungen reagieren unsere Gesprächspartner immer begeistert und meist auch geduldig. Guillermo führt uns auch noch zum Cementerio Santa Ifigenia, wo wir das Wachablösungszeremoniell der Ehrengarde an Jose Martís Mausoleum verfolgen, mit etwas Stechschritt, aber durchaus stimmig. Hier dürfen die Gardisten höchstens 1.75 lang sein, sonst passen sie nicht ins Mausoleum… Als guter Geschäftsmann hat Guillermo den 1. Teil unserer Tour ausgehandelt, überlaesst es aber mir, den Tarif fuer die Zusatzrunde festzulegen, am Schluss sind alle zufrieden.

Als 2. Planänderung kürzen wir Santiago um 1 Tag, bleiben dafür länger in Baracoa. Am letzten Tag sehen wir uns noch das Museo Bacardi an, was Antoinette all meinen Einwänden zum Trotz als Rummuseum sehen will (ist es definitiv nicht, sondern eine seltsame Ethno-Histo-Helden-Kunstsammlung eines reichen Rumproduzenten). Dann lädt Marianne zum letzten Santiago-Drink ein, für ein Mal nicht auf der wunderschönen, aber etwas abgehobenen Dachterrasse des Casa Granda, sondern ganz nah am cubanischen Leben, also auf der Plaza Dolores, dem Platz mit der dreckigsten Luft Santiagos. Das heisst dann: Ich trinke mein Bier aus der Dose, Ruth und Marianne schmeckt ihr Cuba libre überhaupt nicht, rechts will eine Band beachtet und bezahlt sein, von links taucht aus dem Nichts unsere Führerin von der Casa Velazquez auf und lässt sich auf ein tucola einladen, von hinten fiedelt ein alter Mann unharmonisch um Ruths Ohren, am Schluss sind wir alle im Format A5 porträtiert (nicht sehr gelungen, finde ich) – und ich kämpfe mit nachlassender Energie gegen überbordende Trinkgeldwellen. Dafür ist das Nachtessen noch ein Mal Spitze.